Mittwoch, 27. März 2024

Rezension: Und Großvater atmete mit den Wellen von Trude Teige


Und Großvater atmete mit den Wellen
Autorin: Trude Teige
Übersetzerin: Günther Frauenlob
Hardcover: 416 Seiten
Erschienen am 27. März 2024

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Der Norweger Konrad Bjerke arbeitet als Leichtmatrose einem Handelsschiff, das Dieselöl aus dem Iran nach Australien bringen soll. Es ist das Jahr 1943, und Japan in Südostasien auf dem Vormarsch. Als ein japanisches U-Boot das Schiff auf hoher See mit Torpedos angreift, wird sein Bruder Sverre, der als Funker ebenfalls an Bord war, gefangen genommen. Konrad selbst versucht, mit einem Rettungsboot an Land zu gelangen. Als er an der Küste von Java strandet, ist er mehr tot als lebendig. Im Krankenhaus bietet die Krankenschwester Sigrid Greve an, sich um ihn zu kümmern, da sie ebenfalls aus Norwegen kommt. Sie lebt seit ihrer Kindheit auf Java, da ihre Eltern dort ein Hotel besitzen. Die beiden kommen sich schnell nahe. Doch die japanischen Besatzer verschärfen täglich die Regeln, und beide ahnen, dass sie getrennt voneinander in Gefangenschaft geraten werden. Was wird sie dort erwarten?

Der Roman beginnt mit einem Brief von Juni Bjerke, die ankündigt, dass man nachfolgend in die Erinnerungen ihres Großvaters eintauchen wird. Da ich das vorherige Buch der Autorin nicht gelesen habe, konnte ich damit wenig anfangen, denn Juni wird während der ganzen Geschichte nicht in Erscheinung treten und nur auf der allerletzten Seite des Romans ein kurzes Fazit ziehen. Ansonsten brauchte ich aber keine Vorkenntnisse, um in die Geschichte hineinzufinden. Sie beginnt hochspannend mit einem Torpedoangriff und ich bangte mit, ob es Konrad an Land schaffen wird.

Das Tempo ist zu Beginn hoch. Die Geschichte wird aus den Perspektiven von Konrad, Sverre und Sigrid erzählt, die auf dem von den Japanern besetzten Java ganz unterschiedliche Erfahrungen machen. Die beiden Brüder klammern sich an die Hoffnung, dass der jeweils andere überlebt hat, und versuchen, Erkundigungen einzuholen. Unterdessen kommen sich Konrad und Sigrid näher. Doch die Japaner haben es sich zur Aufgabe gemacht, alle auf der Insel, die keine Asiaten sind, in Lager zu verfrachten. Nach etwas mehr als 100 Seiten geraten alle drei getrennt voneinander in Kriegsgefangenenschaft. 

Der Rest des Romans beschreibt auf eindringliche Weise die Erlebnisse in den Lagern. Es gibt wenig Nahrung und schlechte hygienische Verhältnisse, wodurch Krankheiten grassieren. Die Charaktere sind der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt. Bald wird das Leben in den Lagern zum Überlebenskampf, der immer wieder neue Opfer fordert. Einzelne hoffnungsvolle Momente weichen schon bald wieder der Sorge, dass die Besatzer ihre Gefangenen irgendwann verhungern lassen. Der beschaulich klingende Titel des Romans bezieht sich auf die Methode von Konrad, in dieser schrecklichen Zeit in den Schlaf zu finden. 

Erst als die Nachrichten vom Kriegsende die Lager erreichen, flammt die Hoffnung wieder auf. Das Erzähltempo ist plötzlich wieder hoch, die Ereignisse überschlagen sich, halten aber neue schockierende Momente bereit. Ich habe das Buch traurig und mit einem wehmütigen Gefühl beendet. Eine intensive und beklemmende Lektüre darüber, wie es den Ausländern auf Java unter japanischer Besatzung ergangen ist. 

Dienstag, 26. März 2024

Rezension: Geordnete Verhältnisse von Lana Lux

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Geordnete Verhältnisse
Autorin: Lana Lux
Erscheinungsdatum: 19.02.2024
Verlag: Hanser Berlin (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783446279551
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In ihrem Roman „Geordnete Verhältnisse“ betrachtet Lana Lux die toxische Beziehung zwischen Philipp und seiner besten Freundin Faina. Die beiden lernen sich in der Schule kennen, nachdem Faina im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern aus der Ukraine ins Ruhrgebiet gezogen ist. Dagegen ist Philipp als Kind eine Weile bei Verwandten aufgewachsen, bevor er wieder bei seiner Mutter wohnen darf, die gegen ihren Alkoholismus ankämpft.

Philipp wird schnell wütend, manchmal schlägt er dann zu oder schreit. In der Freundschaft zu Faina findet er eine Aufgabe, denn er hilft ihr beim Deutschlernen und erklärt ihr deutsche Angewohnheiten. Durch Faina lernt er eine andere Mentalität kennen. Fünfzehn Jahre nach der ersten Begegnung wohnen Philipp und Faina zusammen, sind aber kein Paar. Philipp entwickelt keine Anziehung zu anderen Personen, fühlt sich jedoch auf besondere Weise mit seiner langjährigen Freundin verbunden. Doch nach einem Streit kommt es zum Bruch der Freundschaft und Faina zieht nach Berlin. Nach mehreren Jahren sucht sie verzweifelt die Nähe von Philipp, der sie wieder bei sich aufnimmt. Aber seine Hilfe fordert einen hohen Preis von Faina. 

Lana Lux erzählt den Beginn der Freundschaft zunächst aus der Sicht von Philipp. Erst als Faina nach ihrer Rückkehr aus Berlin Aufnahme bei ihrem besten Freund sucht, wechselt die Erzählperspektive zu ihr. Nach einem erneuten zeitlichen Sprung und einem erklärenden Kapitel, das beide in den Fokus nimmt, lässt die Autorin beide im Wechsel, den sich zuspitzenden Konflikt bis zum tragischen Ende erzählen.

Eine große Stärke der Autorin besteht in der Figurengestalten. Philipp ist ein verstörtes Kind, dessen größter Wunsch ein bester Freund ist. Er beharrt meist auf seiner Meinung, erweist sich als besitzergreifend und hält gern an Ritualen fest, die er sich ausgedacht hat. Fainas Verhalten ist zunächst von ihrer Herkunft beeinflusst. Da die Autorin selbst ukrainisch-jüdische Wurzeln hat, gelingt es ihr, diese authentisch darzustellen. Später versucht Faina sich aus den an sie gestellten Erwartungen zu befreien und zu einer eigenen Identität zu finden. Ohne die Interventionen ihrer Eltern und Philipps fühlt sie sich frei und lotet ihre Grenzen aus. Die Protagonisten entwickeln sich auf ihre Weise jeweils unerwartet weiter, was zu einem hohen Reiz des Weiterlesens führt.

In einem großen Bogen vom Kindes- zum Erwachsenenalter beschreibt Lana Lux tiefgründig und ergreifend die großen Gefühle ihrer Hauptfiguren, die zum Verständnis dessen beitragen, was zum Abschluss der Geschichte geschieht. Als Leserin spürte ich Wut und Verzweiflung ebenso wie Hoffnung und Zuneigung. Von Anfang an war die Beziehung von Philipp und Faina von dunklen Wolken umweht, die sich schließlich zu einem Gewittersturm auswuchsen.

Im Roman „Geordnete Verhältnisse“ konfrontiert Lana Lux den Lesenden mit starken Empfindungen, die für die beiden Protagonisten genauso erleichternd wie auch schmerzlich sein können. Es ist ein realistisch vorstellbares Szenario, das die Autorin beschreibt und für mich zu einem erschütternden, tief bewegenden Leseereignis führte. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.  


Sonntag, 24. März 2024

Rezension: Die Burg von Ursula Poznanski


Die Burg
Autorin: Ursula Poznanski
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 1. Februar 2024

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Maxim hat eine Einladung zu einer exklusiven Veranstaltung erhalten: Er darf als einer der ersten den neuen Escape Room auf der Burg Greiffenau ausprobieren. Dort hat der Milliardär Nevio in den unterirdischen Räumen die neueste Technik verbaut und eine KI programmiert, die den Besuchern eine Escape Room Erfahrung ganz nach ihren Wünschen bietet und jedes Mal neue Rätsel entwirft. Maxim wurde für seine Teilnahme an diesem Testlauf viel Geld angeboten, das er dringend benötigt, da er sich mit seinen eigenen klassichen Escape Rooms verschuldet hat. Neben ihm sind noch eine Influencerin, ein C-Promi, ein Professor und die Gewinnerin eines Preisausschreibens dabei. Gemeinsam mit Nevio und einem Game Master starten sie eine Partie. Bald jedoch beginnt die KI, sich nicht mehr an die vereinbarten Regeln zu halten. Das Spiel wird zum Überlebenskampf.

Escape Rooms sind schon seit einigen Jahren ein beliebtes Event und auch ich habe schon einige besucht. Während die meisten Anbieter für eine Partie auf Rätsel in ein bis zwei Räumen setzen, werden einige kreativer. Bei meinem persönlichen Favoriten muss man zum Beispiel krabbeln und klettern, um in den nächsten Raum zu gelangen und in einem Horror-Szenario, das ich mich bislang nicht getraut habe zu spielen, wird mit echten Schauspielern gearbeitet. Insofern kann ich gut verstehen, dass Maxim als Protagonist des Roman die Zukunft seiner klassischen Escape Rooms durch das neue Angebot auf der Burg bedroht sieht. Immer neue Rätsel, kreiert von einer KI und dargeboten in Räumen, die gänzlich mit LED-Screens ausgekleidet wurden, um ein möglichst immersives Erlebnis zu bieten.

Da es sich um einen Thriller handelt weiß man natürlich, dass etwas schief gehen wird. Erst einmal ließ ich mich aber von der Begeisterung der Teilnehmer packen, die sich an die Lösung der ersten Rätsel machen. Immer wieder wechselt die Perspektive auch zu Alissa und ihren Kolleg:innen, die sich in der Burg um das Organisatorische kümmern sollen und das Event über Bildschirme beobachten. Sie haben lange alles für die große Eröffnung vorbereitet und stehen dementsprechend unter Druck, dass beim Testlauf alles perfekt ist.

Bald gibt es erste Anzeichen, dass etwas nicht nach Plan läuft, welche die Teilnehmer jedoch nur geringfügig beunruhigen. Als die KI sich schließlich ganz querstellt, kippt die Stimmung schnell. Ich war gespannt, wie die unterschiedlichen Charaktere sich im Anblick der aussichtlosen Situation verhalten werden. Der Thriller bietet Spannung und Nervenkitzel, sodass ich zügig weiterlesen wollte. In der zweiten Buchhälfte erlebte ich dann jedoch ein paar kleine Längen, da zwar immer neue Schrecken geboten werden, aber die Handlung nicht mehr so recht vorankommt. Zum Ende hin gibt gibt es einige Enthüllungen im Hinblick auf Geheimnisse der Charaktere, die mich trotz vorheriger Hinweise überraschen konnten. Auch für die Frage, warum die KI so böse werden konnte, wird eine Erklärung geliefert, die Diskussionspotenzial bietet, ob es wirklich so weit kommen könnte. Wer Escape Rooms und Thriller mag, der sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen!

Freitag, 22. März 2024

Rezension: Hallo du Schöne von Ann Napolitano

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Hallo du Schöne
Autorin: Ann Napolitano
Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence
Erscheinungsdatum: 26.02.2024
Verlag: Dumont (Link zur Buchseite des Verlags)
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband
ISBN: 9783832169459
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In ihrem Roman „Hallo du Schöne“ betrachtet die US-Amerikanerin Ann Napolitano verschiedene Familienkonstellationen und deren mögliche Vor- und Nachteile. Aus einer personalen Erzählperspektive geschrieben, nimmt die Autorin die Schwestern Julia und Sylvie Padavano sowie William Waters in den Fokus. Zu Beginn des Romans sind die drei Protagonist(in)en am Beginn ihres Studiums beziehungsweise ihrer Ausbildung. Im letzten Drittel kommt noch eine weitere interessante Perspektive einer jüngeren Person hinzu. Titelgebend für das Buch ist die typische Begrüßung von Vater Padavano für seine vier Töchter. Das Cover ist ein richtiger Hingucker, der meiner Meinung nach bestens zum Titel passt.

Die Geschichte beginnt 1978 und endet 2008. William gab mir als Leserin zunächst einen Einblick in seinen Alltag als Student und erfolgreicher Basketballspieler. Er erinnert sich aber auch an seine Kindheit und Jugend. Gleich der erste Satz des Roman erschütterte mich mit einem einschneidend tragischen Ereignis, denn Williams Schwester starb wenige Tage nach seiner Geburt. Seine Eltern verharren in ihrer Trauer und er erfährt wenig Zuneigung von ihnen. Als er mit achtzehn Jahren die ein Jahr jüngere Julia am College in Chicago kennenlernt, erlebt er in deren Familie einen außergewöhnlichen Zusammenhalt. Zwar gibt es auch zwischen den Geschwistern und deren Eltern Zwistigkeiten, doch sie lachen gemeinsam und unterstützen sich bei Ängsten und Sorgen.

Julia hat bestimmte Vorstellungen von ihrer Zukunft, bei der sie eine Karriere anstrebt und sich an der Seite als Ehefrau von William sieht. Die scheue Sylvie wünscht sich eine große Liebe, doch zunächst gibt sie sich mit Liebeleien zwischen den Regalen der Bibliothek, in der sie arbeitet, zufrieden. Ihr jüngeres Geschwister Cecelia hat eine künstlerische Ader und ist ein Freigeist, wohingegen ihre Zwillingsschwester Emeline eine fürsorgliche Art hat. Die vier Frauen halten in allen Krisen zueinander, aber als das Schicksal 1983 besonders hart zuschlägt, steht ihr Zusammenhalt auf dem Prüfstand und treibt die Familie auseinander. Das letzte Drittel des Romans bringt nochmal, so wie der Beginn, eine Feststellung, die ins Bewusstwerden einschneidet.

Ann Napolitano versteht es, die Einsamkeit, die einer Person innewohnen kann, sichtbar zu machen. Wenn man allein lebt, ist man mitunter nicht so einsam, als wenn man sich nicht geliebt und behütet fühlt. Obwohl William Wertschätzung in seinem Umfeld erfährt, hat er das psychische Trauma seiner Kindheit nie aufgearbeitet. Durch die Erzählperspektive lassen sich die Beweggründe für das Handeln der einzelnen Figuren sehr gut nachvollziehen. Nicht immer gibt es eine beste Lösung für Probleme im Leben. Ann Napolitano zeigt auf berührende Weise wie wichtig es ist, andere Ansichten zu respektieren, zu verzeihen und zu vergeben.

Durch den Wechsel zwischen den Erzählperspektiven überschneidet sich die Handlung an manchen Stellen, was im mittleren Teil zu kleineren Längen führt, aber auch für ein tieferes Verständnis des Verhaltens von William, Julia und Sylvie sorgt. Liebe in vielen Facetten sorgen in der Geschichte für ein abwechslungsreiches Lesen, kleine Geheimnisse bringen eine hintergründige Spannung.

In ihrem Roman „Hallo du Schöne“ verbindet Ann Napolitano erfreuliche und tragische Ereignisse einer US-amerikanischen Familie über dreißig Jahre hinweg. Es gelang ihr, die Gefühle der handelnden Personen an mich als Leserin weiter zu transportieren. Daher vergebe ich sehr gerne eine Leseempfehlung.

Sonntag, 17. März 2024

Rezension: Gruß aus der Küche von Ingrid Noll

 


Rezension von Ingrid Eßer


Titel: Gruß aus der Küche
Autorin: Ingrid Noll
Erscheinungsdatum: 21.02.2024
Verlag: Diogenes (Link zur Buchseite des Verlags=
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783257804553

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Ein „Gruß aus der Küche“ ist in der französischen Kochkunst gebräuchlich und gibt dem gleichlautenden Roman von Ingrid Noll den Titel, allerdings ist die 40-jährige Köchin Irma als eine der Protagonist(innen) tief in ihrer deutschen Heimat verwurzelt. Auf mich als Leserin wirkte sie nicht so brav wie die Porträtierte auf dem Cover des Buchs. In ihrem Restaurant „Aubergine“, in dem sie ausschließlich vegetarische und vegane Gerichte anbietet, ist sie tagsüber in einem Outfit anzutreffen, das dem Namen ihres Gasthauses alle Ehre macht. Obwohl sie eine soziale Ader hat, versteht sie es, ihre Ansichten und Forderungen durchzusetzen.

Neben Irma nimmt die Autorin auch Josch, Lucy und Vinzent in den Fokus der Kapitel. Alle erzählen aus der Ich-Perspektive. Josch ist Kellner. Von Größe und Umfang her könnten er und Irma kaum verschiedener sein, doch sie mögen einander. Irma ist von seinen administrativen Kenntnissen abhängig, aber auch eifersüchtig, wenn er anderen Frauen mehr als schöne Augen macht. Die schusselige und gefühlsgesteuerte 17-jährige Lucy hat die Schule abgebrochen und probiert sich im Restaurant in einem Beruf aus, während der über 80 Jahre alte Vinzent, seines Zeichens Doktor der Altertumskunde, einen Zeitvertreib in der Küche beim Gemüseschneiden sucht. Außerdem nimmt Hilfsköchin Nicole, Irmas gute Freundin seit Kindertagen, eine größere Rolle in der Geschichte ein. Im Sprachstil zeigt die Autorin sich diesmal gestaltungsreich und firm mit eingestreutem Denglisch, Anglizismen und antiquierten Begriffen von Vinzent.

Ingrid Noll ist bekannt für ihre Romane, in denen sie mit Witz und Verve einen raffiniert ausgeführten Mordfall beschreibt. Beim Lesen dachte ich einige Male, dass nun bald jemand das Zeitliche segnen wird. Ob und wann es dazu kommt, verrate ich nicht, aber wie gewohnt ist die Geschichte in einem lakonisch sarkastischen Stil geschrieben. Die Protagonist(innen) lieben und schlagen sich im übertragenen Sinn. Aus Ärger wird Rachsucht und auf einen ersten Streich folgt ein weiterer. Es gibt in der Regel immer eine Person mit Verständnis für das Opfer des Pranks, so dass sich Bündnisse ergeben, die sich wieder auflösen und neuformieren. Nicht immer hat der Spaß die gewünschte Wirkung. Daraus resultieren einige unerwartete Wendungen und zum Ende hin gibt es noch eine Überraschung, die ich so nicht erwartet hätte. Eine hintergründige Spannung ist durchgehend vorhanden, bietet aber keinen Höhepunkt.

„Gruß aus der Küche“ von Ingrid Noll ist ein schalkhafter Roman mit Biss, der zeigt, wie vielseitig ein Amuse Bouche sein kann. Locker-flockig vereint die Autorin in der Geschichte die Lebenswelt von Jung und Alt, deren gemeinsames Anliegen es ist, die Gäste der Gaststätte mit vegetarischen Gerichten zufrieden zu stellen. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.


Samstag, 16. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 3. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


3. Leseabschnitt: ab Seite 339 bis zum Schluss (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

nachdem die Geschichte einige Zeit im Jahr 1984 verharrte, weil die Ereignisse den Schwestern und William in wesentlichem Maße zusetzten, eilen die Jahre zu Beginn des dritten Leseabschnitts nur so dahin. Der erste Satz des neuen Abschnitts traf mich als Leserin sofort ins Herz. Darin sagt Julia ihrer fünfjährigen Tochter, dass ihr Vater verstorben ist. In diesem Moment wurde mir Julia unsympathisch, was sich in der Folgezeit weiter verstärkte. Wie ist es dir dabei gegangen, als du gelesen hast, dass Julia für sich und ihre Tochter weiteren Kontakt zur Familie ablehnt? 

Liebe Ingrid,  

um ehrlich zu sein, mit Julia habe ich von Anfang an gehadert. Sie ist wie ein Schweizer Uhrwerk. Sie geht unbeirrt ihren Weg ohne Rücksicht auf Verluste. Julia hat beschlossen, den Kontakt zu ihrer Familie abzulehnen und dann gilt das eben auch für ihre Tochter. Ihre Härte und Unnachgiebigkeit kennen keine Grenzen. Auch wenn das bedeutet, den Vater ihrer Tochter für tot zu erklären. Aber da Alice ihrem Vater sehr ähnlich sieht, wird Julia jeden Tag an seine Existenz erinnert. Alice ist mir ans Harz gewachsen. Sie ist eine interessante Mischung aus Williams und Julias Charakter. Ihre Darstellung fand ich besonders gelungen. Wie ist es Dir mit Alice gegangen. Mochtest Du sie? 

 Ja, ich mochte sie und konnte ihre introvertierte Art gut nachvollziehen. Mit ihr kommt eine neue Sicht auf die Geschehnisse ins Spiel. Da sie wenig Emotionen nach außen zeigt und gern für sich bleibt, konnte ich auf diese Weise mehr über ihre Gefühle erfahren. Hätte die Autorin sie nicht in den Fokus gestellt, denke ich, wäre sie eine Randfigur geblieben. Ich finde die Perspektiven, auch von William, Julia und Sylvie, von Ann Napolitano geschickt gewählt, denn die großen Schicksale des Romans treffen vor allem diese vier und durch ihren Blick auf die Ereignisse war ich tief berührt. Hättest du dir noch die Sichtweise einer anderen Person gewünscht?

Ich fand es klasse, dass die Autorin Alice eine zentrale Rolle gegeben hat, denn die vier Schicksale sind nun einmal besonders eng miteinander verbunden. Mir persönlich haben die Informationen über die Randfiguren ausgereicht. Nein, ich hätte mir keine weitere Sichtweite gewünscht. Wie hast Du die tragische Wendung in der Geschichte empfunden? Damit hatte ich nicht gerechnet, aber es hat gut gepasst. Die Entwicklung von William fand ich auch gut dargestellt. Fandest Du William sympathisch? 

Die Wende hatte ich so nicht kommen sehen. Allerdings hatte ich mir schon gedacht, dass Julia und William keine ideale Ehe führen werden, dazu lag der von Julia gesetzte Maßstab zu hoch. William hat das Trauma seiner Kindheit nie überwunden, insofern habe ich sein Verhalten zwar nicht gutgeheißen, aber ihn dafür auch nicht verurteilt.

Ann Napolitano hat in ihrem Roman die verschiedensten Familienkonstruktionen eingebracht und auch die unterschiedlichen Erziehungsstile von Rose, Julia und Cecelia. Ich hätte nicht gedacht, dass Julia sich so verkrampft zeigt. Offensichtlich hat sie in New York für sich selbst Vergnügen gefunden. Patno, denkst du, dass sie sich dennoch einsam fühlte und darum ihre Tochter dauerhaft an sich binden wollte? Cecelias Art mit Izzy umzugehen, fand ich dagegen cool. Ungewöhnlich fand ich Emelines Wunsch nach Pflegekindern. Ich hätte viel zu sehr mein Herz an die Kleinen gegeben und sie vermutlich nicht mehr hergeben wollen. 

Julias Verhalten habe ich tatsächlich geahnt. Es hat zu ihrer Charakterdarstellung gepasst. Ich denke schon, dass der Ausweg nach New York gut in ihren Plan gepasst hat. Nach außen hin gibt sie sich stark und vergnügt, aber innerlich haben ihr die Schwestern bestimmt sehr gefehlt. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie einsam war. Mit Sicherheit hat ihr Silvie jeden Tag gefehlt. Da ist es nur logisch, sich an Alice als Rettungsanker zu klammern. Schon nach dem ersten Leseabschnitt war Cecelia mein Lieblingscharakter und das hat sich durch das Buch durchgezogen. Die Nummer mit Emelie und den Pflegekindern fand ich merkwürdig. Besser hätte ich es gefunden, wenn sie ein Kind zur Pflege genommen oder adoptiert hätten.  

Ann Napolitano erklärt in ihrer Danksagung mehr oder weniger, wie die Geschichte entstanden ist. Dennoch frage ich mich, welche ähnlichen Dramen sie selbst in ihrer Familie erlebt hat, um die Gefühle der Personen so nachvollziehbar wiedergeben zu können. Zum Schluss hätte ich gerne noch mehr über die nächsten Schritte von William und Alice erfahren, aber vielleicht gibt es irgendwann eine Fortsetzung. Für mich ist der Roman trotz ein paar kleiner Längen eine Leseempfehlung wert. 

Hat nicht jeder von uns sein Pölsterchen zu tragen? Ich denke, Ann Napolitano hat sich in ihre Figuren sehr intensiv hineinversetzt und sicher spielt da auch die eine oder andere persönliche Erfahrung eine Rolle. 
Für mich klingt der Roman in sich abgeschlossen. Ich glaube, es hat mir ausgereicht zu sehen, dass sich Vater und Tochter Stück für Stück annähern. Eine Fortsetzung kann ich mir nicht so richtig vorstellen. 
Was die Leseempfehlung betrifft, bin ich ganz Deiner Meinung. Ein toller Roman, der Denkanstöße bietet und den anspruchsvollen Leser sucht. 

Liebe Ingrid, nun sind wir am Ende unseres Buddyreads angekommen. Es hat Spaß gemacht, mich mit Dir gemeinsam zu lesen. Sollten wir bei Gelegenheit wiederholen.  

Liebe Patno, vielen Dank, dass du meine Lesepartnerin warst und mir mein erstes Buddyread ermöglicht hast. Es war eine interessante Erfahrung. Vielleicht finden wir uns wieder einmal zum Lesen und Austauschen zusammen.

 


Freitag, 15. März 2024

Rezension: Ein falsches Wort von Vigdis Hjorth


Ein falsches Wort
Autorin: Vigdis Hjorth
Übersetzerin: Gabriele Haefs
Hardcover: 400 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Bergjlot hat zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder. Ihre eigenen Kinder sind schon erwachsen, da bricht unter ihren Geschwistern ein Streit ums Erbe der Eltern aus. Einst wurde ihnen versprochen, dass sie alle gleich viel erben sollen. Doch nun haben die Eltern den jüngeren Schwestern Astrid und Åsa je eine der beiden Hütten in Hvaler überschrieben und dabei einen sehr niedrigen Wert angesetzt. Ihr Bruder Bård fühlt sich ungerecht behandelt und möchte Bergjlot auf seiner Seite wissen. Die ist erstaunt, dass sie überhaupt noch etwas erben soll, hat sie doch Jahre zuvor den Kontakt zur Familie gänzlich abgebrochen. Auf Bårds Drängen hin äußert sie sich schließlich doch dazu. Aber je mehr sie sich dadurch wieder mit ihrer Familie beschäftigen muss, desto stärker dringen alte, schmerzhafte Erinnerungen an die Oberfläche.

Auf der ersten Seite der Geschichte informierte die Ich-Erzählerin Bergjlot mich, dass ihr Vater seit fünf Monaten tot ist. Danach beginnt sie ihren Bericht, was sich in den Wochen davor und danach zugetragen hat. Zunächst dreht sich alles um den Streit ums Erbe: Die beiden jüngeren Schwestern möchten Auseinandersetzungen verhindern, finden die Überschreibung der Hütten an sie aber auch fair, da sie seit Jahren viel mehr Zeit mit den Eltern verbringen haben als Bård und Bergjlot. Aus Sicht der beiden älteren Geschwister gab es gute Gründe für ihr Fernbleiben, doch diese werden zunächst nicht ausgeführt.

Der ganze Roman ist aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Bergljot geschrieben. Selbst die Briefe und Mails, die sie mit ihren Geschwistern austauscht, fasst sie mit eigenen Worten zusammen. Dadurch entsteht ein einseitiger Blick auf die Ereignisse. Es wird immer deutlicher, dass Bergjlot das Erbe tatsächlich relativ egal ist und ich fragte mich, warum sie den Kontakt zur Familie abgebrochen hat. Ihre Gedanken kreisen, aber immer, wenn sie sich den Gründen nähert drehen sie ab. Sie erwähnt, dass sie viele Jahre Therapie in Anspruch genommen hat wegen Dingen, die ihr als Kind widerfahren sind. In der zweiten Buchhälfte gelingt es ihr schließlich besser, das Unaussprechliche zumindest grob in Worte zu fassen.

Wie reagiert eine Familie auf schwerwiegende Anschuldigungen aus ihrer Mitte, an denen sie eigentlich zerbrechen müsste? In diesem Fall entscheidet sie sich für Verleugnung zugunsten von Harmonie. Bergjlot ist eine unzuverlässige Erzählerin, doch mit der Zeit konnte ich immer besser nachvollziehen, wie sehr sie unter den Reaktionen ihrer Familie leidet. Ihre ganze Wut, Enttäuschung und Trauer bricht hervor, die alten Wunden werden durch den Erbstreit aufgerissen, während ihre Familie auf Versöhnung drängt. Doch den dafür aufgestellten Regeln, die besagen, dass sie dafür von ihrer Wahrheit abrücken muss, kann sich Bergjlot nicht fügen. 

Die Rückblicke in die Vergangenheit, wie es der Erzählerin als junge Erwachsene ergangen ist, brachten für mich nur wenig Erkenntnisgewinn und ich erlebte während der Lektüre durch sich wiederholende Kommunikationsmuster einige Längen. Aus meiner Sicht ist es aber letztendlich die mangelnde Figurenentwicklung, die den Roman ausmacht und zu der schmerzaften Erkenntnis führt, dass manche Wunden nicht heilen können, wenn niemand seine Sicht auf die Dinge überdenken möchte. Eine eindrückliche Lektüre, die nachhallt.

Donnerstag, 14. März 2024

Buddyread zum Roman "Hallo du Schöne" von Ann Napolitano - 2. Leseabschnitt

 


Buddy-Read von Ingrid (buchsichten) mit Patricia (Patno) (https://nichtohnebuch.blogspot.com)

Hanna und ich kennen Tanja und Patricia (kurz: Patno) vom Blog "Nicht ohne Buch" schon seit vielen Jahren und treffen bei buchigen Events immer wieder auf die beiden. Darum habe ich mich besonders gefreut, dass Patno sich gemeldet hat, als ich ein(e) Partner(in) zu einem Buddyread für das Buch "Hallo du Schöne" gesucht habe. Wir haben den Roman in drei Leseabschnitte eingeteilt.


2. Leseabschnitt: von Seite 167 bis 338 (506 gesamt)

Liebe Patno,

 

das Verhalten von William im zweiten Leseabschnitt fand ich verstörend, konnte die von ihm gezogenen Konsequenzen aber auch nachvollziehen, obwohl ich sie nicht gutheiße. In seinem Leben hat er zunächst wenig Liebe erfahren und sich mehrfach als Versager erlebt. Glücklicherweise hat er dennoch Freunde, die ohne Wenn und Aber an seiner Seite stehen. 

 

Liebe Ingrid, 

 

mir ging es ähnlich. Von Anfang an wirkte William auf mich emotionslos, was allerdings bei diesen Eltern durchaus nachvollziehbar ist. Erst war mir unbegreiflich, dass er so einen radikalen Bruch mit Frau und Kind vollzieht. Später wird klar, dass William Angst hatte, den Menschen weh zu tun. Ich finde es klasse, wie sich sein Freund Kent und das Basketball-Team um ihn kümmern. 

 

Endlich erfuhr ich auch, ob sich das bewegende Gefühl, dass sich zwischen William und Sylvie zeigte und von beiden zunächst als unerwünscht zur Seite geschoben wurde, weiter entwickeln konnte. Sylvie weiß, wenn sie ihrem Empfinden folgt, wird sie Julia weh tun. Wie hättest du dich an Sylvies Stelle entschieden? Ich finde es schwierig, aus der heutigen Sicht zu entscheiden, welchen Weg man in den 1980ern genommen hätte. Mit dem jetzigen Wissen hätte ich wie Sylvie entschieden.

 

Ich glaube, ich hätte tatsächlich wie Sylvie entschieden. Die beiden Schwestern waren sich zwar immer sehr nah, aber Julia hatte William bereits abgeschrieben. Sie ist so klar und strukturiert, wirkt aber auf mich sehr kühl und distanziert. Sie muss alles im Griff haben und durchplanen. Mit Sylvie konnte ich eher sympathisieren. Sie ist nicht so aalglatt und eben nicht perfekt. Auch sie wird von düsteren Gedanken heimgesucht und ich glaube, sie versteht Williams Handlungen und kann besser damit umgehen. 

 

Über mehr als einhundert Seiten hinweg behandelt die Geschichte einen Zeitraum von nur etwa fünf Monaten, der aus drei Perspektiven geschildert wird. Zwangsläufig kommt es dazu, dass gewisse Situationen dann aus den verschiedenen Sichten geschildert werden. Was denkst du: hätte es gereicht, wenn nur ein(e) Protagonist(in) die wichtigsten Ereignisse erzählt hätte?

 

Ich denke auch, dass dieser Teil der Geschichte den Lesefluss etwas verlangsamt. Hier hätte ich es mir etwas komprimierter gewünscht. Durch diese verschiedenen Sichtweisen wiederholen sich ein paar Dinge. Mir persönlich hätte auch eine Protagonist(in) gereicht, um die wichtigsten Details zu erfahren. Es ist dieser typische amerikanische Schreibstil, detailverliebt und ausschweifend. Trotzdem bewegt mich das Gelesene und ich bin gespannt, wie es im dritten Teil weitergeht. 

Wie empfindest Du das Verhalten der Zwillinge? Sie stehen schon zwischen den Fronten, aber ich finde es toll, wie sie sich verhalten. 

 

Die Zwillinge sind als Figuren sehr unterschiedlich. Gut ist es, wenn in einer Familie Konflikte vorliegen und dann mindestens ein oder eine andere(r) sich nicht einfach nur zurückzieht und sagt: „Sollen die doch ihre Differenzen untereinander ausmachen“, sondern sich Gedanken macht und zu einer Lösung beiträgt. So, wie die Zwillinge es halten, denke ich, ist es das richtige Maß zwischen Abstand und Einmischen, aber hin und wieder kann vermutlich nur die Zeit zu einer Entspannung der Gesamtsituation beitragen. Leider sind die Fronten manchmal arg verhärtet und ich frage mich, wie sich das Verhältnis der Schwestern im Roman zueinander weiterentwickeln wird.


Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit

 


Rezension von Ingrid Eßer

Titel: Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin aus dem Niederländischen: Helga von Beuningen
Erscheinungsdatum: 13.03.2024
rezensierte Buchausgabe: Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 9783103975642
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Die Novelle „Der ehrliche Finder“ der Belgierin Lize Spit ist eine Geschichte über die Freundschaft zweier Jungen, die sich in viele Eigenschaften unterscheiden. Die Erzählung spielt Ende des letzten Jahrhunderts in dem fiktiven belgischen Ort Bovenmeer.  

Einer der beiden Protagonisten ist Jimmy. Er ist etwa neun Jahre alt und besucht die dritte Schulklasse. Als einziges Kind seiner Eltern lebt er nach dem Auszug seines Vaters im Einfamilienhaus allein mit seiner Mutter. Jimmy sammelt mit Begeisterung die sogenannten Flippos, die seit Mitte der 1990er einige Zeit bestimmten Chipstüten in Belgien beilagen und von denen es damals weit über 500 mit verschiedenen Cartoons gegeben hat. Er ist ein sehr guter Schüler und wahrheitsliebend. Eines Tages sieht er Geld in einem Bankautomaten stecken, nimmt es an sich, gibt es aber bald darauf der Besitzerin wieder zurück, die inzwischen nach ihrer Abhebung sucht. Der Titel nimmt hierauf Bezug.

Die zweite Hauptfigur ist der elfjährige Tristan, der eines Tages zum Mitschüler von Jimmy wird. Er ist mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen. Obwohl er zunächst kaum ein Wort Deutsch spricht, werden die beiden schnell Freunde. Die Familie von Tristan wartet darauf, das Bleiberecht in Belgien zu erhalten. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Genehmigung erteilt wird, denkt Tristan sich etwas aus und bittet Jimmy um Mithilfe. Doch für die Freunde wird die Umsetzung des Plans zum Drama.

Das Gefühl der Einsamkeit kennt Jimmy sehr gut. In Tristans Familie lernt er den Zusammenhalt und das Füreinanderdasein kennen und schätzen. Entsprechend der Erzählungen des Freund stellt Jimmy sich vor, welchen Strapazen Tristan auf der Flucht ausgesetzt war. Mit seiner Hilfsbereitschaft versucht er ihm das jetzige Leben zu erleichtern. Außerdem hofft er darauf, dass der Freund seine Sammelleidenschaft teilt und sie dadurch einem gemeinsamen Hobby nachgehen können.

Die Autorin lehnt ihre Geschichte an dem wahren Schicksal einer geflüchteten Familie aus dem Kosovo an. Ihre Schilderungen sind ergreifend, aber ich hätte gerne noch einiges mehr über das Leben der beiden Familien erfahren aus der Zeit, bevor die Jungen sich miteinander befreundet haben. Das Thema der Asylsuchenden ist und bleibt aktuell und mit Konflikten belastet.

Lize Spit verdeutlicht in ihrem Buch „Der ehrliche Finder“, dass die Freundschaft von Kindern auf anderen Faktoren beruht als auf gesellschaftlichem Stand, Alter und Geschlecht. Zwar bleibt die Novelle weit hinter ihren ausführenden Möglichkeiten zum Thema Asyl zurück, ist aber lesenswert und bewegend. 


Mittwoch, 13. März 2024

Rezension: Der ehrliche Finder von Lize Spit


Der ehrliche Finder
Autorin: Lize Spit
Übersetzerin: Helga van Beuningen
Hardcover: 128 Seiten
Erschienen am 13. März 2024

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Jimmy ist ein begeisterter Sammler. Sein Taschengeld nutzt er, um Chipstüten zu kaufen, denn in jeder befindet sich ein Flippo. Jeden Tag fährt er auf dem Rad durch die Stadt auf der Suche nach Münzen. Die fünftausend Franc, die er bei seiner Runde im Geldautomat findet, muss er jedoch wieder zurückgeben, sodass sein Traum von einer vollständigen Sammlung schnell wieder in die Ferne rückt.

Seine doppelten Flippos hebt Jimmy für Tristan auf, um ihn damit irgendwann zu überraschen. Dieser ist sein bester Freund, seit er vor etwas mehr als einem Jahr in der Schule neben ihn gesetzt wurde. Gemeinsam mit seiner Familie ist er aus dem Kosovo bis nach Belgien geflüchtet. Jimmy ist begeistert, als er von Tristan eingeladen wird, bei ihm zu übernachten. In den gemeinem Plan, den Tristan mit seiner Schwester Jetmira ausgeheckt wird, soll er jedoch erst am nächsten Tag eingeweiht werden.

Das neue Werk von Lize Spit ist eine Novelle, die in Belgien als kostenlose Geschichte in der Buchwoche erschienen ist. Zu Beginn lernte ich Jimmy kennen, der stolz darauf ist, Tristan seinen besten Freund nennen zu dürfen. Seit dessen Ankunft in seinem Ort lernt Jimmy fleißig mit ihm die Sprache. Allerdings wird er schnell eifersüchtig, wenn Tristan Zeit mit anderen verbringt. Umso mehr freut er sich über die Einladung zur Übernachtung bei Tristan und seiner großen Familie.

Ich konnte gut nachvollziehen, wie faszinierend die Großfamilie Ibrahimi auf Jimmy wirken muss, der allein bei seiner Mutter wohnt, seit der Vater die Familie verlassen hat. Doch das muntere Treiben ist alles andere als sorgenfrei. In diversen Szenen zeigt sich, dass Tristan und seine Familie schwere Traumata erlitten haben, als sie zu Fuß bis nach Belgien geflüchtet sind. Und nun droht die Abschiebung. 

Die Geschichte setzt sich schließlich auf bedrückende Weise mit der Frage auseinander, wie weit ein Kind zu gehen bereit ist, um im Land und damit in Sicherheit bleiben zu dürfen. Das Ende ist jedoch abrupt und insgesamt hätte ich mir einen stimmigeren Handlungsbogen gewünscht. Die fünftausend-Franc Szene zu Beginn und auch Jimmys Flippo-Sammlerei haben am Ende wenig mit dem zentralen Thema der Novelle zu tun. Dieses hätte man noch intensiver ausschöpfen können, damit die knapp über 120 Seiten bei diesem schweren und wichtigen Thema noch eindringlicher nachwirken.

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